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02.04.2020

Wir müssen nicht die Besten sein

Für Fans der deutschen Fußball-Nationalmannschaft war es 2014 ein
großartiges Erlebnis: unsere Jungs – und damit doch irgendwie wir alle
– gewannen die Weltmeisterschaft in Brasilien. Unvergesslich das Bild,
das durch die Medien ging: der von Erschöpfung und Glück zugleich
überwältigte Bastian Schweinsteiger in den Armen von Bundestrainer
Joachim Löw. Nach seinem Rücktritt aus der Nationalmannschaft auf
dem Höhepunkt seines Erfolges wird Schweinsteiger in einem Interview
sagen, es seien die schmerzlichen Niederlagen gewesen, die ihn in
seiner Karriere stark gemacht hätten. Das Ausscheiden der Deutschen
in der Vorrunde der Weltmeisterschaft in Russland
verfolgte er nur noch als Zuschauer, so wie Millionen andere, und
zurück blieb bei den Fans blanke Enttäuschung und Ratlosigkeit.
Was sind sie langfristig wirklich wert, die Siege in unserem Leben: die
auf den großen Bühnen der Welt und die in unserem Alltag? Wie
prägen sie uns? Sind Titel tatsächlich die wahren Erfolge, an denen wir
uns messen sollten?
Der Wunsch, wenigstens doch einmal der Beste zu sein, lebt in uns
wahrscheinlich seit Menschengedenken. Er ist einfach menschlich.
Auch im Neuen Testament lesen wir an mehreren Stellen, dass sich
sogar die Jünger in Jesu Umfeld darum stritten, wer von ihnen der
Größte sei (Mk 9,34 u.a.). Es gibt Menschen, denen sprechen wir zu,
sie hätten ein Siegergen, weil ihnen alles gelingt, was sie anpacken.
Und die, die vermeintlich immer auf der Verliererseite sind, heißen
neudeutsch Loser (vom Englischen to lose, verlieren). Während den
Losern oft noch selbst die Schuld an ihrem Versagen zugeschoben
wird, loben und bewundern wir die Siegertypen für ihre Bereitschaft,
alles zu geben für den einen großen Erfolg.
Das Streben nach Erfolg hat viele Facetten. Jemand möchte beruflich
Karriere machen und nimmt damit über Jahre vielleicht viele
Entbehrungen in Kauf ebenso wie ein Profisportler, der sich ganz den
Gesetzen des Wettkampfs unterwirft. „Quäl dich, du Sau“ ist seit der
Tour de France 1997 zu einem wenig charmanten, aber geflügelten
Wort geworden für alle, die Motivation und Anfeuerung brauchen auf
ihrem Weg zum großen Coup. Doch wer immer mit ganzem Einsatz zu
gewinnen versucht, läuft auch Gefahr, eine Einstellung zu entwickeln,
dass alles, was zum Siegen verhilft, richtig ist. Auf einer rein
menschlichen Ebene kann so eine Haltung viel ethischen Schaden
verursachen. Beispiele gibt es zuhauf, angefangen von
Dopingskandalen im Sport über Wahlmanipulationen in der Politik bis
hin zu Bankenpleiten wie die von Lehman Brothers in der
Wirtschaftsbranche. Nicht zu vergessen, dass auch die ganz Großen an
einen Punkt kommen können, wo sie psychisch mit ihrem Erfolg nicht
mehr zurechtkommen, in Skandale abgleiten, durch Drogenexzesse
zugrunde gehen oder gar krank und vereinsamt sterben.
Robbie Williams, britischer Sänger und Entertainer und sicherlich einer
von diesen ganz Großen auf den Showbühnen unserer Zeit, erzählt in
Interviews immer wieder, wie schmal der Grat zwischen Höhepunkt und
Absturz sein kann. Von seinen eigenen tiefen Krisen kann er
buchstäblich ein Lied singen. Seine Texte spiegeln seine bisweilen
verzweifelte Suche nach dem Sinn des Lebens, seines Lebens wieder.
In seinem Welthit „Feel“, zu deutsch Fühlen, singt er folgende Passage:
„... ich will mit dem Lebenden in Berührung kommen. Ich bin mir nicht
sicher, ob ich diese Rolle verstehe, die mir zugedacht wurde. Ich sitze
hier und spreche mit Gott und er lacht nur über meine Pläne. Mein Kopf
spricht eine Sprache, die ich selbst nicht verstehe. Ich will einfach nur
wahre Liebe fühlen in dem Haus, in dem ich wohne. Denn ich habe zu
viel Leben, das durch meine Venen fließt und das dabei ist,
verschwendet zu werden...“ Millionen Fans, die ihm zu Füßen liegen,
sind offensichtlich nicht der wahre Erfolg, den er sich für sein Leben
wünscht.
In der Mitte der Gesellschaft lässt sich seit Jahren ein Phänomen
beobachten, das nachdenklich macht. Wer sich persönlich
weiterentwickeln möchte, geht nicht mehr in erster Linie zum
Therapeuten oder Seelsorger, sondern sucht sich einen Personal
Coach, also einen persönlichen Trainer. Motivationsseminare in großen
Event-Hallen boomen. So genannte Live-Coaches wie Jürgen Höller
oder Christian Bischoff schaffen mit viel persönlichem Einsatz und
Charisma eine Gruppendynamik, die tausende Menschen allen Alters
und Herkunft von ihren Stühlen reißt. Du bist ein Gewinner! – diese
Affirmation wird beinahe gebetsmühlenartig mit einer entsprechenden
Pose wiederholt und somit im episodischen Gedächtnis der Teilnehmer,
wie es die Psychologie nennt, verankert. Hätte die Kirche nur halb so
viel Überzeugungs- und Motivationskraft, dann würden Gottesdienste
landein, landaus aus allen Nähten platzen.
Doch irgendwie scheint das nicht zusammen zu passen – Glaube und
Erfolg. Jedenfalls nicht so, wie letztgenannter gemeinhin verstanden
wird. Dafür braucht es eine andere Interpretation von Erfolg. Das Neue
Testament ist voller Erfolgsgeschichten. Nur geht es nicht um die
vermeintlichen Gewinnertypen, sondern um die, die am Rand stehen,
die Loser also. In der Begegnung mit Jesu werden einfache Leute,
Arme, Kranke, Schwache und Rechtlose zu wahren Heldinnen und
Helden des Alltags. Seine Jünger sucht sich Jesus nicht aus der High
Society aus, sondern aus der Schicht der Fischer und Handwerker, wie
es zum Beispiel das Markus-Evangelium in seinem ersten Kapitel
schildert. Einen Erfolgsplan haben sie nicht – oder doch? Jesu‘
Coaching-Strategie, um im modernen Bild zu bleiben, liest sich mehr als
provozierend: „Wenn jemand der Erste sein will, soll er der Letzte von
allen und der Diener aller sein.“ (Mk 9,35) Und wenn es ein
vorgestecktes Ziel in diesem Leben gibt, dem hinterher zu jagen ist,
dann ist es der Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in
Christus Jesus, heißt es im Philipperbrief (Phil 3,14). Denn der
auferstandene Christus ist im Neuen Testament der Sieger schlechthin.
Er hat dem größten Konkurrenten des Lebens, dem Tod, seine Macht
genommen.
Und was heißt das nun alles für uns selbst? Unsere Lebensaufgabe
nährt sich daraus, immer wieder etwas zu finden, worauf wir hinarbeiten
möchten, wofür wir unsere Energie einsetzen möchten. Wer sich Ziele
setzt, kann sie erreichen oder an ihnen scheitern. Ob ein Ziel groß ist,
liegt immer im Ermessen des Einzelnen und hängt von seiner
Lebensgeschichte ab. Auch was wir als Erfolg und was als Niederlage
empfinden, ist unserer Persönlichkeit zugrunde gelegt. Als Menschen
auf dem spirituellen Weg dürfen wir aber das Vertrauen lernen, dass es
ein großes und endgültiges Scheitern gar nicht geben kann. „Du kannst
nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“, sagte einst Bischöfin Margot
Kässmann. Die angesehene und beliebte Theologin gab 2010 nach
einer alkoholisierten Autofahrt ihre Ämter in der EDK auf. Vielleicht hat
sie angesichts einer sicherlich sehr schmerzlich gefühlten Niederlage
an die Verse des Psalms 139 gedacht, in denen es heißt:
8Steige ich hinauf in den Himmel, so bist du dort; / bette ich mich in der Unterwelt, bist du zugegen. 9Nehme ich die Flügel des Morgenrots / und lasse mich nieder am äußersten Meer, 10auch dort wird deine Hand mich ergreifen / und deine Rechte mich fassen.

Nicht zuletzt der Dichter Rainer Maria Rilke hat in einem Gedicht die
Niederlagen unseres Lebens in wunderbar berührenden Worten mit
dem Fallen der Blätter im Herbst verglichen. Am Ende erfahren wir
immer das Aufgefangenwerden in Gott: Wir alle fallen. Diese Hand da
fällt. Und sieh dir andere an: es ist in allen. Und doch ist Einer, welcher
dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält...



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