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04.05.2021
Mein anderes Ostern
Langsam verblasst die Erinnerung, die Bilder vor meinem inneren Auge
verschwimmen, aber wenn sie doch wieder mal so richtig hoch
kommen, ist auch der Schrecken immer noch sehr präsent. Es war
nachmittags an einem Karsamstag, ich war mit Vorbereitungen in der
Küche beschäftigt, denn für den Ostersonntag hatten wir Freunde zum
Brunch eingeladen. Eben noch hatte ich das Spielzeug unseres jüngeren
Sohnes im Wohnzimmer klappern hören, plötzlich war es seltsam still.
Auf mein Rufen kam keine Antwort. Als ich nachsah, wurde ich panisch.
Der Kleine lag apathisch auf dem Sofa, regungslos, die Augen weit
geöffnet und eigenartig verdreht. Ich schrie ihn an. Keine Reaktion. Er
atmete kaum noch.
Jede Minute eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich ein Rettungssanitäter ins
Wohnzimmer stürmte, mir meinen Sohn aus dem Arm riss und mit dem
Kleinen wieder hinausrannte. Und ich stand danach wie verloren auf der
Straße neben dem Rettungswagen, drinnen kämpfte der Notarzt um
das Leben meines Kindes.
Da war diese schwere Anklage in mir, einen Tag nach Karfreitag: Gott,
wenn du meinen Sohn jetzt sterben lässt, dann bist auch du für mich
tot.
Als nach weiter endlos scheinenden Minuten die Tür des
Rettungswagens aufging, schaute der Notarzt heraus und sagte: „Wir
haben ihn wieder.“ Aber der Albtraum war noch lange nicht zu Ende.
„Er muss jetzt möglichst schnell in die Klinik, es war knapp.“
Wenig später saß ich schon im Hubschrauber, meinen Sohn im Blick
zwischen Schläuchen und Beatmungsgerät. Schnell stieg er hoch
Richtung Himmel, schnell landete er auch wieder punktgenau auf dem
zugewiesenen Feld des Krankenhauses. Und wieder rannte ein
Rettungsteam mit meinem Kind davon.
„Warten Sie hier bitte!“
Karsamstag, ist das nicht der stille Tag nach Jesu Tod am Kreuz, der
Tag der Grabesruhe? Die Stille im Klinikflur war unerträglich. Und das
Warten war keine Bitte, sondern ein klare Aufforderung, der ich
nachzukommen hatte. Wie lange es gedauert hat, weiß ich nicht mehr.
Aber den Satz des Oberarztes höre ich wie gestern: „Wir haben Ihren
Sohn ins künstliche Koma versetzt. Ob gesundheitliche Schäden zurück
bleiben, können wir noch nicht sagen.“
Es war Abend geworden, schon bald würden die ersten
Osternachtsfeiern beginnen. Viele Gedanken waren mir, als ich am Bett
meines Sohnes saß. Hatte ich Gott tatsächlich am Nachmittag
angeklagt, gedroht? Ja, das hatte ich. Nicht Hoffnung und Vertrauen
waren meine Begleiter auf der Straße vor dem Rettungswagen, sondern
Anklage und Drohung. Einen Tag nach dem Tod des Gottessohnes am
Kreuz war ich nicht bereit, meinen Sohn sterben zu sehen. Das ist zu
viel verlangt.
Ijob kam mir in den Sinn, der große Dulder im Alten Testament, dessen
unerschütterlicher Glaube allen Schicksalsschlägen stand hält. „Der
Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei
gepriesen“ heißt es im ersten Kapitel im Vers 21. Aber ist es so einfach?
Auch an den zutiefst erschöpften und völlig verängstigten Elija dachte
ich, der unter dem Ginsterstrauch liegt und nicht mehr weiter weiß,
nicht mehr weiter will (1 Kön 19), bis ihn ein Engel Gottes aus seiner
Lethargie holt. Wo war der Engel, der mich in der großen Ungewissheit
stärkte? Und da war Petrus in meinen Gedanken, der Jesus verraten
hatte (in Mk 14 u.a.). Das hätte er sich vorher nicht träumen lassen, in
so eine Situation zu kommen. Offenbar hatte er seine Glaubenskraft
gewaltig überschätzt und versagte bei dieser echten Probe, Treue und
Vertrauen in Jesus zu zeigen. Hatte ich Gott auch verraten mit meiner
Drohung, ihn zu verlassen? Versagte ich auch gerade bei dieser echten
Probe?
Und was ist mit Jesus selbst? Sind nicht jene Psalmworte überliefert,
die er in seinem Todeskampf am Kreuz gebetet hat (Mk 15, 34 u.a.)
und die so eindrücklich beginnen mit: Mein Gott, mein Gott, warum
hast du mich verlassen...?
Mir wurde klar, dass ich keine „Automaten-Christin“ bin. Nur weil wir an
einem bestimmten Tag im Jahr Ostern feiern, heißt das noch lange
nicht, dass auch in uns Auferstehung spürbar ist. Manche Ereignisse
lassen uns lange im Karfreitag hängen bleiben. Weihnachten, Neujahr,
Fasching, Ostern, Geburtstag, Urlaub, das sind zuallererst Termine,
festgelegte Zeiten. Und es geht darum, alle diese Feste und alle
Stimmungen des Lebens miteinander zu integrieren. Denn dieses Leben
ist viel mehr als Daten im Kalender. Wie oft brechen gerade an
Feiertagen oder im Urlaub Katastrophen über uns herein, ein schwerer
Unfall, ein plötzlicher Tod, ein Hausbrand, eine Eskalation in Familien-
oder Freundesbeziehungen. Dann ist nichts mehr, wie es vorher war,
ein Schock kann so tief sitzen, und dann braucht es Zeit, sich neu zu
orientieren, wieder die eigene Mitte zu finden – vielleicht auch den
Glauben an Gott neu zu spüren und zu leben.
Mein Sohn hat den schweren cerebralen Krampfanfall gut überstanden.
Er war dem Tod von der Schippe gesprungen, um es etwas flaspig zu
formulieren. Aus dem Koma erwacht, wurde er am Ostermorgen sogar
schon wieder ein bisschen frech. In einem religiös-spirituellen
Verständnis war seine Zeit, seine Stunde noch nicht gekommen. So
eine Formulierung kennen wir aus dem neuen Testament, Jesus
verwendet sie selbst desöfteren (vgl. Joh 7,8;30).
Mir ist bewusst, dass es aber auch ganz anders hätte ausgehen können,
und viele Menschen müssen so ein ganz anderes Ende verkraften und
damit leben lernen. Ihnen gebührt großes Mitgefühl, und
bedingungsloses Vertrauen in Gottes Führung ist wohl eine lebenslange
Übung. Die Botschaft von Ostern möchte uns ja sagen: Der Tod ist
nicht das von uns gefühlte oder erlebte Ende, er ist nur der Übergang
aus diesem Leben hin zu etwas ganz Neuem. Was das sein wird,
werden wir erst noch erfahren, dann, wenn unsere Zeit, unsere Stunde
gekommen ist.
Der griechische Schriftsteller Nikos Kazantzakis hat sich zu dieser Zeit,
dieser Stunde, seine eigenen Gedanken gemacht und die Botschaft der
Auferstehung in einem sehr schönen und tröstlichen Bild ausgedrückt:
Der Tod ist keine Tür, die schließt.
Er ist eine Tür, die öffnet.
Sie öffnet, und man geht hinein.
Wohin?
In Gottes Schoß.
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