Raum & Stille

Praxis für Meditation und Massage

Blog


News


Zurück zur Übersicht

04.01.2021

Der Mensch und seine Ängste

Kribbeln in der Magengrube, weiche Knie, feuchte Hände und Herzklopfen bis zum Hals – wie oft spüren wir diese körperlichen Anzeichen der Angst, die im gleichen Moment auch die Macht über unsere Gedanken und Gefühle und über unser Verhalten übernehmen? Allen Menschen angeboren, ist Angst ein natürlicher Reflex unserer Evolution. Doch es gibt immer mehr Menschen, die dermaßen viel Angst spüren, dass sie diesen Zustand als große Einschränkung ihrer Lebensqualität empfinden. Für viele ist das ein Grund, zu Beruhigungsmitteln zu greifen oder psychotherapeutische oder seelsorgliche Hilfe zu suchen.
Eigentlich schützt uns unsere Angst, indem sie uns bei drohender Gefahr fokussiert. Unsere Sinnesorgane schicken dem Gehirn Informationen, bestimmte Gehirnbereiche senden dann Signale, die in unserem Körper die typischen Reaktionen auslösen, etwa den berühmten Adrenalinausstoß. Wir sind dann in Alarmbereitschaft und handeln entsprechend. Das war schon bei unseren steinzeitlichen Vorfahren so. Die Flucht vor einem wilden Tier zu ergreifen oder angesichts eines Säbelzahntigers vor Schreck buchstäblich zur Salzsäule zu erstarren, wird so manchem das Leben gerettet haben. Letzteres ist evolutionsgeschichtlich als „Totstellreflex“ bekannt.
Heute trifft der Homo sapiens zwar auf keinen Säbelzahntiger mehr, aber wer Angst vor großen Hunden oder Spinnen hat, wird bei einer plötzlichen Begegnung mit diesen Tieren dieselben Symptome spüren und schlimmstenfalls in Panik geraten. Diese schaltet unseren Verstand aus und suggeriert höchste Gefahr. Die Liste von Angststörungen ist lange. Panische Angst vor bestimmten Tieren, Höhenangst, Flugangst, Prüfungsangst, Angst vor Menschenmassen oder engen Räumen machen vielen Menschen das Leben zu einem Spießrutenlauf. Nicht zu vergessen all die sozialen und gesellschaftlichen Ängste wie die vor Überfremdung oder einer neuerlichen großen Wirtschaftskrise. Angst kann an das althochdeutsche Wort angust, eng angelehnt werden oder auch an das lateinische Wort angere, sich winden. Das sagt eigentlich schon alles. Woher unsere konkreten Ängste letztlich rühren, ist ein weites Feld der Psychologie.
Auch Kinder haben Angst. Vielleicht haben sie im Kleinkindalter eine Phase, in der sie nicht einschlafen können, weil ein böser Geist unter dem Bett lauern könnte. Oder ein Kindergartenkind fühlt sich in der Gruppe nicht wohl, weil es Angst hat, Mama oder Papa kommen es nicht mehr abholen. Welche Ängste auch immer ein Kind äußert, es gibt eine klassische schnelle Reaktion darauf: „Davor musst du doch keine Angst zu haben!“ antwortet mancher Vater, manche Mutter vermeintlich fürsorglich. Doch eine solche Antwort kann die Angst des Kindes sogar noch verstärken, weil es seine Angst ja real spürt und sich nicht einmal von den eigenen Eltern verstanden fühlt.
Mit einem erwachsenen Menschen verhält es nicht sehr viel anders. Erzählt jemand in einem seelsorglichen Gespräch oder in einer psychotherapeutischen Beratung oder auch einfach nur im Freundeskreis von seiner Angst, ist es wichtig, die Angst absolut ernst zu nehmen und das im Gespräch auch so zu vermitteln. Schnelle, gut gemeinte Antworten oder Ratschläge sind nur ein weiterer Stich in die ohnehin vorhandene Wunde.
Um gleich beim Bild des Stiches zu bleiben: Ich habe große Angst vor Wespen. Allein das Geräusch des Summens jagt mir schon Schauer über den Rücken. So sehr ich den Sommer liebe, aber gemütlich draußen zu sitzen bei Kaffee und Kuchen ist alljährlich ein großer psychologischer Kraftakt für mich. Als Kind bin ich oft gestochen worden und die Stiche haben sich entzündet. Auch als Erwachsene bin ich einmal vollkommen unvermittelt in einen Wespenschwarm geraten – ein schweres Trauma für meinen Körper und meine Seele. Sieht mich jemand im Sommer zur anfangs schon erwähnten Salzsäule erstarren, sobald eine Wespe meinen Kuchen anpeilt, ist ein schlau dahergeredeter Satz wie „Die macht dir doch nichts!“ blanker Hohn für meine Ohren. Wer dagegen meine Angst ernst nimmt, mir ruhig zuredet und mit sanften (nicht hektischen!) Bewegungen die Wespe von mir fernzuhalten versucht, gewinnt mein Vertrauen. Natürlich ist mir bewusst: Die Wespe kann ja nichts dafür.
Mit manchen Ängsten lernen wir irgendwie zurechtzukommen, so dass sie ihre Macht allmählich einbüßen, mit manchen müssen wir uns vielleicht unser ganzes Leben lang auseinander setzen. Oft verfolgen uns unsere Ängste ja sogar bis in den Schlaf. Dort laufen wir um unser Leben, kämpfen mit einem Ungeheuer oder fallen zum ungezählten Male durch die Mathematikprüfung. Spätestens durch unsere Albträume, aus denen wir schreiend und schweißgebadet aufwachen, werden wir immer wieder daran erinnert, die eigenen Ängste wahrzunehmen, die wir tagsüber wegzuschieben versuchen.
Aber wie ist das eigentlich mit unserem Gottvertrauen? Ist es nicht als Christen unsere Einladung, uns ganz in die Hände Gottes zu geben und uns von ihm führen zu lassen? Soll uns unser Glaube nicht vor der Angst schützen? So einfach ist es nicht. Unser Leben vollzieht sich in Höhen und Tiefen, und es ist vollkommen menschlich, dass es Situationen gibt, in denen wir bis ins Innerste erschüttert und von Ängsten geplagt werden.
Die existenziellste aller Ängste, die Todesangst, hat Jesus selbst gespürt. Der Evangelist Markus schildert uns die Szene mit den Jüngern am Ölberg so schnörkellos wie erschreckend: Und er nahm Petrus, Johannes und Jakobus mit sich. Da ergriff ihn Furcht und Angst, und er sagte zu ihnen: Bleibt hier und wacht! Und er ging ein Stück weiter, warf sich auf die Erde nieder und betete, dass die Stunde, wenn möglich, an ihm vorübergehe. (Mk 14, 33-35) In den Begegnungen mit den Menschen hat sich Jesus aufmerksam und mitfühlend ihre Geschichten angehört, die nahezu immer Angstgeschichten waren. Weil er sie ernst genommen hat, konnte er anschließend sagen: „Fürchte dich nicht! / Fürchtet euch nicht!“ So lesen wir es in der Erzählung über den erschrockenen Petrus nach dem reichen Fischfang (Lk 5, 5-10) oder über die vom Tod der Tochter des Synagogenvorstehers (Lk 8,50). Bibelforscher haben es nachgerechnet: 366 Mal soll diese Ermutigung je nach Wortwahl im Alten und Neuen Testament vorkommen, geäußert von Gott selbst, von Jesus, von einem Propheten oder Apostel oder von einem Engel, wie in der Erzählung der Geburt Jesu (Lk 2, 10). Gott weiß also, wie schnell und intensiv wir Angst haben können. Er legt uns nahe, uns unserer Angst zu stellen, sie bewusst wahrzunehmen und trotzdem immer wieder Vertrauen in das Leben und Gottes gute Führung zu üben, sei es, dass die Angst uns ganz plötzlich überkommt oder eben schon lange prägt.
Und dann gibt es noch einen anderen Aspekt, der vielen Menschen auf den ersten Blick gar nicht so im Bewusstsein ist: Angst kann auch Spaß machen. Das nennen wir dann Nervenkitzel. Zu beobachten ist ein solcher regelmäßig in Freizeitparks oder auf Volksfesten, wenn die Fahrgestelle mit hemmungslos kreischenden Gästen durch ihre Bahnen rasen. Aus einer besiegten Angst gehen wir erleichtert, gestärkt und befreit heraus, sei es der erste Sprung vom Zehn-Meter-Turm im Schwimmbad, die Drei-Minuten-Tour in der Achterbahn mit Mehrfach-Looping oder das Bungee-Jumping von einem Kran. So ein Wagnis kann gut sein und uns in eine bewusstere Beziehung mit uns selbst führen. Manche Menschentypen suchen solche Hormon-Kicks, auch als Mutproben bekannt, geradezu zielgerichtet auf. Unterschwellig schwingt im Moment der höchsten Anspannung und des völligen Sich-Fallenlassens sicher immer ein „Oh mein Gott!“ mit.



Zurück zur Übersicht


E-Mail
Anruf
Karte
Infos