Raum & Stille

Praxis für Meditation und Massage

Blog


News


Zurück zur Übersicht

04.01.2021

Sehnen, Sucht und Sehnsucht

Unser Leben ist bestimmt von unseren Sehnsüchten, Erwartungen und Hoffnungen. Das ist einer der Gründe, weshalb Glück und Enttäuschung gefühlt sehr nahe beieinander liegen können. Wir sehnen uns nach glücklichen Beziehungen und sind tief enttäuscht, wenn wir sie nicht so erleben oder Freundschaften auseinander brechen. Wir wünschen uns aus tiefstem Herzen ein gesundes und sorgenfreies Leben und werden doch immer wieder durch Krankheiten oder andere unerwartete Ereignisse in unserem Glauben und unserem Vertrauen erschüttert.
Solche Erfahrungen spiegeln sich auch in Literatur und Musik seit Menschengedenken wieder. Man muss nur einmal den berühmten antiken Dichter Catull gelesen haben, der an der Sehnsucht zu seiner Geliebten Lesbia fast irre wurde und sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen konnte. Oder man besucht ein Konzert von Helene Fischer und erlebt mit, wie tausende Fans ihre Sehnsuchtslieder voller Inbrunst mitsingen, als wären es ihre eigenen Geschichten.
„Alles beginnt mit der Sehnsucht“ – dieses Zitat stammt aus einem Gedicht der jüdischen Schriftstellerin Nelly Sachs. Darin erkennt sie, wie sie es lyrisch ausdrückt, „die Größe und Not des Menschen“: Denn wo Sehnsucht sich erfüllt, dort bricht sie noch stärker auf. Möge diese unsere Sehnsucht also irgendwann darin enden, Gott zu finden, wünscht sich Nelly Sachs als letztes Ziel, als letztes Ankommen.
Sehnsucht ist ein spannendes Wort, steckt darin doch noch ein weiteres, das für sich allein betrachtet einen ganz anderen Charakter hat: Sucht. Hat Sehnsucht mit Sucht zu tun, also einem Zustand von Abhängigkeit, zum Beispiel das beherrschende Verlangen nach einer bestimmten Handlung oder Substanz? Und wo bliebe dann der Raum für alle Romantik, der Hauch von Melancholie, mit denen wir das Phänomen Sehnsucht doch auch so gerne verbinden?
Natürlich wäre unsere Welt ärmer ohne die Entdeckungslust und das Abenteurertum vieler Menschen der Weltgeschichte. Sie wurden und werden durch ihre Sehnsucht und ihre Visionen zu großen Taten angetrieben. Waren es früher Männer wie Marco Polo, die sich aufgemacht haben in unbekannte Länder, sind es heute Forschertypen wie Alexander Gerst, die die großen Risiken einer Weltraummission auf sich nehmen. Aber auf einer anderen Ebene neigen wir Menschen dazu, Sehnsucht zu sehr zu spiritualisieren. Denn alle Formen unsere Sehnsüchte basieren letztlich auf einem Gefühl von Mangel. Wir sind in unserem Denken und Fühlen dann nach Außen ausgerichtet, auf etwas oder jemanden, auf ein Objekt, das scheinbar nicht da ist, denn deswegen sehnen wir uns ja danach. Und ohne Zweifel kann Sehnen in Sucht abgleiten, oft in einem schleichenden Prozess. Dieser behindert die Entwicklung unserer wahren Persönlichkeit und bringt uns in einen Zustand seelischer und auch körperlicher Unfreiheit.
Wonach sind wir sehn-süchtig? Wo nimmt uns das Sehnen dermaßen ein, wo konzentrieren wir uns so krampfhaft auf unseren Mangel, dass wir gar nicht mehr die Fülle in unserem Leben und unserem Alltag wahrnehmen können? Letztlich die Fülle des Augenblicks?
Es ist eine meiner liebsten Stellen im Neuen Testament, Jesu Satz aus dem 10. Kapitel des Joh-Evangeliums: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben.“ Fülle er-füllt sich im Augenblick, und wenn wir bewusst sind, erfahren wir und bekommen wir in diesem Moment alles geschenkt, was wir brauchen. Anders ausgedrückt: Un-bewusstheit ist die erste Ursache für Mangelzustände im Leben.
In einem Zustand von Bewusstheit kann ich mich dagegen fragen: Was ist die tiefere Ursache meines Mangelgefühls und warum er-füllt sich meine Sehnsucht nicht, obwohl sie mich doch schon so lange begleitet? Wenn wir genau nachspüren und unseren Lebensschmerz und all unsere Verletztheit nicht verleugnen, dann wissen wir: es gibt nur eine alles umfassende und alles einnehmende Sehnsucht – die nach Liebe. Wir wollen geliebt werden, das ist unser größtes Sehnen, unsere intensivste Abhängigkeit.
Meistens konzentrieren wir uns auf die Erfahrungen von vermeintlicher Lieblosigkeit und unerfüllter Liebe und erkennen nicht, dass es wir selbst sind, die lieblos mit uns umgehen. Dabei geht es nicht um Schuldgefühle, sondern um Verantwortung. Jeder und jede ist Schöpfer und Schöpferin seiner und ihrer Lebenswirklichkeit – für mich persönlich ist das die wichtigste und tiefste spirituelle Botschaft überhaupt. Denn wenn ich Schöpfer bin, dann bin ich kreativ, aktiv – und kein Opfer, kein Sklave eines bösen Schicksals, und ich bin auch nicht im Zustand seelischer Unfreiheit.
Unser Leben findet in jedem einzelnen Augenblick statt. Wenn wir das Geschenk des Lebens, seine Fülle und Schönheit bewusst wahrnehmen wollen, dann müssen wir jetzt da sein, bei dem, was wir gerade tun. Die Präsente des Lebens – man beachte das Wortspiel – empfangen wir nur im Präsens, in der Gegenwart.
Deshalb: Machen wir Frieden mit uns selbst, lernen wir das Loslassen. Schauen wir kritischer auf unsere Sehnsüchte statt uns in ihnen zu verlieren. Nehmen wir die Erwartung zurück, unsere Mitmenschen müssten uns mögen, respektieren, lieben – sie müssen es nicht und viele können es nicht. Fangen wir jeden Tag neu an, Frieden mit uns selbst zu machen. Seien wir uns selbst die beste Freundin und der beste Freund. Wertschätzen und lieben wir unseren ganz eigenen Weg und erlauben wir auch jedem Anderen, seinen Weg zu gehen, auch wenn er das Gegenteil von unserem ist.



Zurück zur Übersicht


E-Mail
Anruf
Karte
Infos